Fragen an Roger Christmann
Autor|in: Klaus Dilger
Veröffentlichung: 31. März 2020

Roger Christmann ist Kaufmännischer Direktor des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch und engagiert sich auch in den sozialen Medien für einen Austausch an relevanten Informationen und Strategien zur Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie für Kulturorte. Wir sprachen mit ihm über die aktuelle Situation an den Theatern:

TM (TANZ.MEDIA) Herr Christmann, Sie haben sich dem Vernehmen nach zum Experten in Fragen des Kurzarbeitsgeldes entwickelt.  Ein kleiner Zwischenstand davon war sogar in den „sozialen Medien“ nachzulesen. Wie haben sich Ihre Recherchen denn weiter entwickelt?

RC (Roger Christmann): Tja, vor drei Wochen hatte ich von Kurzarbeit nur ganz entfernt etwas gehört, inzwischen bin ich, glaube ich, ziemlich gut informiert. Die Regeln der Kurzarbeit sind, vereinfacht, die folgenden: Der Arbeitgeber gibt monatlich an, wie stark die Kurzarbeit für jeden Mitarbeiter war. Die Agentur für Arbeit übernimmt dann 60% bzw. 67% (falls Kinder zu Lasten) des „ausgefallenen“ Nettolohns sowie die Sozialabgaben auf diesen Teil des Gehalts. Der Arbeitgeber kann diesen Nettolohn dann noch aufstocken. Kurzarbeit kann eingeführt werden, wenn sie im Tarifvertrag vorgesehen ist oder wenn der Betriebsrat bzw. alle Mitarbeiter ihr Einverständnis dazu geben – bei uns war letztes der Fall.

TM: Für die Tänzerinnen und Tänzer, aber auch für alle anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Unternehmens „Tanztheater Wuppertal Pina Bausch“, bedeuten 60 Prozent ihres bisherigen Einkommens, dass sie sich damit am absoluten Existenzminimum bewegen würden. Beim Tanztheater Wuppertal haben Sie sich entschieden, diese Differenz komplett zu ergänzen, damit Ihre Mitarbeiter keine Einnahme-Verluste haben. Wie lange lässt sich diese Anstrengung stemmen? Lässt sich diese komplett aus den Fördersummen des Landes und der Stadt finanzieren?

RC: Das kann ich so pauschal nicht sagen, das hängt davon ab, ab wann wir wieder auftreten können. Bei uns kommen knapp 30% der Gesamteinnahmen aus dem Ticketverkauf und den Gastspielhonoraren, und auf Kostenseite sind die Gehälter natürlich der größte Teil. Da hilft das Kurzarbeitsgeld schon sehr, und das halten wir, auch dank Reserven, schon ein paar Monate aus. Auch wenn es schmerzt.

TM: Es gibt ja immer die Vorgaben, öffentliche Gelder möglichst sparsam zu verwenden; im Zweifelsfall gehen solche Forderungen meist zu Lasten der Künstlerinnen und Künstler, insbesondere wenn diese nicht fest angestellt sind. Ist dies auch in einer solch ausserordentlichen Krise der Fall?

RC: Ja, das denke ich schon. Denn selbst wenn Kulturorganisationen bereits bestehende oder geplante Engagements honorieren und nicht wegen höherer Gewalt absagen, bleibt ja das Problem, dass ihnen früher oder später das Geld für neue Gastengagements fehlen wird. Es geht also einerseits darum, jetzt dringende Maßnahmen zur Unterstützung der Schwächsten zu finden (darauf greifen auch die bisherigen Maßnahmen von Bund, Länder und Kommunen), und andererseits die Ausfälle der Organisationen abzufedern, damit sie auch mittelfristig handlungsfähig bleiben.

TM: Wie hoch ist in „normalen“ Zeiten der Anteil an der Gesamtfinanzierung durch eigene Einnahmen aus den Vorstellungen und Tourneen der Compagnie?

RC: Etwa 30%.

Roger Christmann privat 

TM: Unternehmen in der freien Wirtschaft können in solchen unverschuldeten Extremsituationen zinsgünstige Überbrückungskredite beantragen. Ein solches Instrument wird für die Theater vermutlich keine realistische Option darstellen; welche Instrumente braucht es für die künstlerischen Betriebe, um die Ausfälle der Einnahmen zu kompensieren und wie schnell?

RC: Es wird wahrscheinlich nicht ohne zusätzliche Zuschüsse gehen. Aber auch eine Kombination Zuschüsse – Kredit könnte eine Lösung sein, dann muss der Kredit aber sehr langfristig (zum Beispiel auf 20 Jahre) und zinslos angelegt sein. Je kleiner und finanziell schwächer die Organisationen aufgestellt sind, desto dringender muss es hier Lösungen geben. Allerdings finde ich richtig, dass sich zunächst um Lösungen für die selbstständigen und freiberuflichen Künstler gekümmert wurde. Aber früher oder später müssen die Kommunen, Länder und der Bund auch den Organisationen helfen.

TM: Ist es ein Vorteil in dieser Situation, dass das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch eine GmbH ist, auch wenn die Gesellschafterin die Stadt Wuppertal ist?

RC: Für die Einführung der Kurzarbeit schon, denn das wäre als städtischer Eigenbetrieb wahrscheinlich nicht möglich (auch wenn ich das nicht geprüft habe). Wenn die Krise allerdings sehr lange dauert, haben die Eigenbetriebe natürlich eine finanzielle Sicherheit, die GmbHs nicht haben.

TM: Wie gehen die anderen Theater damit um, sind Sie untereinander vernetzt, um gemeinsam mehr Kraft für Eure Bedürfnisse entwickeln zu können?

RC: Es gibt einen Austausch, aber im Moment sind doch noch alle sehr stark damit beschäftigt, Lösungen für die eigene Organisation zu finden. Das ist auch verständlich, denn bei allen ist die Situation unterschiedlich. Es wäre aber schon gut, wenn es mittelfristig eine Abstimmung gäbe, wir haben eine Initiative in diese Richtung genommen.

TM: Wird denn zur Zeit überhaupt gearbeitet in den Ballettsälen, den Probebühnen, Werkstätten, Schneiderei und dem Betriebsbüro?

RC: Nein, denn bei dieser Art der Arbeit kann der empfohlene Sicherheitsabstand von 1,5 Meter nicht eingehalten werden. Unsere Tänzer halten sich mit Training zuhause fit, unsere Büromitarbeiter erledigen die anstehenden Arbeiten größtenteils im Home-Office.

TM: Wie gehen die Menschen damit um? Insbesondere die Tänzerinnen und Tänzer, die ja eigentlich auf das tägliche Training ihres Körpers und ihrer künstlerischen Fähigkeiten angewiesen sind?

RC: Das ist natürlich ein großes Problem, und je länger die Krise dauert, desto größer wird es. Unsere künstlerische Leiterin und unser Betriebsdirektor sind mit allen Tänzern im engen Austausch, um Input zu geben und die Situation auf zu fangen. Aber gerade bei Tänzerinnen und Tänzern, die ihre Familie nicht in Wuppertal haben, ist das natürlich eine schwierige Situation.

TM: Eigentlich würden sich die Künstler und Probeleiterinnen derzeit in den U.S.A. auf Tournee befinden, die ja nun nicht stattfinden kann weil sie ebenso abgesagt werden musste wie die Aufführungsreihe in Paris. Lässt sich eine solche Tournee zu einem späteren Zeitpunkt nachholen?

RC: In Paris spielen wir regelmäßig, das Théâtre de la Ville zeigt uns fast jede Spielzeit. Wir überlegen nun gemeinsam, ob und wie wir die Aufführungen der Sieben Todsünden nachholen können. Die komplette USA-Tour nachzuholen wird hingegen sicherlich nicht nächste Spielzeit möglich sein, dafür sind unsere Planungen schon zu weit. Da schauen wir also eher auf die Spielzeit 2021/2022. Allerdings müssen wir erst mal abwarten, wie lange die aktuelle Krise bestehen bleibt.

TM: Sowohl in finanzieller, als auch in künstlerischer Hinsicht: Wie lange ist es noch möglich, die Theater geschlossen zu halten?

RC: Ob wir es wollen oder nicht, wir werden die Situation so lange aushalten, wie es aus gesundheitlichen Gründen notwendig ist. Es bringt meiner Meinung nach nichts, da jetzt Zeitrahmen zu geben.

TM: In den Niederlanden sind bereits zum heutigen Stand alle Aufführungen bis zum 1.Juni untersagt. Rechnet Ihr noch damit, den Spielbetrieb in dieser Spielzeit wieder aufnehmen zu können?

RC: Im Moment ja, auch wenn uns natürlich bewusst ist, dass das Risiko besteht, diese Spielzeit nicht mehr spielen zu können. Wir müssen abwarten, wie die Situation sich entwickelt, und reagieren, wenn neue Entscheidungen getroffen wurden.

TM: Was ist Ihr worst case Szenario?

RC: Der Worst Case Scenario bezieht sich in der aktuellen Krise eher auf den Gesundheitssektor. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Entwicklung ab zu warten und dann bereit zu sein, wenn wir wieder proben und auftreten können.

TM: Arbeitet Sie an Alternativen zum analogen Spielbetrieb und wenn ja, wie sehen diese aus?

RC: Ja, wir haben auf Instagram https://www.instagram.com/tanztheaterwuppertalcreate/ gegründet, hier werden Arbeiten von unseren, aber auch anderen Tänzern gezeigt. Und mit der Foundation sind wir im Gespräch darüber, wie die Arbeiten von Pina Bausch digital gezeigt werden können. Klar ist aber auch, dass diese Möglichkeiten den „echten“ Auftritt nicht ersetzen können.

Städtische und staatliche Theater, sowie die Bühnen und Veranstaltungsorte in freier Trägerschaft, ebenso wie alle anderen Orte  der Begegnungen, sind in besonderem Maße von den Folgen und Auswirkungen der Corona Pandemie existentiell betroffen. Während für die freischaffenden Einzelkünstler, Gruppen und Veranstalter, sowie die verschieden großen Veranstaltungsorte und -Betriebe in freier Trägerschaft finanzielle Sofortmaßnahmen zur Überbrückung finanzieller Notlagen bereit gestellt wurden, bleibt den Mitarbeitern der öffentlichen Träger als erste Sofortmaßnahme das Kurzarbeitsgeld. Roger Christmann ist keiner, der sich hinter dem Begriff der „höheren Gewalt“ zurückzieht und damit die Schwächsten in der Kette, die freien Künstler ohne Festanstellung, im Regen stehen lässt, sondern einer der weiss, dass kaum Eine oder Einer, die oder der in der Welt der Kunst, des Theaters und der Performance arbeitet, über die nötigen Reserven verfügt, um auf sich alleine gestellt eine solche Krise und ihre Folgen über einen längeren Zeitraum hinweg durchzustehen. Künstler und Theater brauchen die Solidarität untereinander aber auch die der Gesellschaft und die eines jeden Einzelnen.

– Das Interview führte Klaus Dilger