LIVE-REPORTING

mit Simon Stickler

TANZ.MEDIA TUTORIALS WS#2

KONTEXT:

Unsere Kooperationspartner für den Workshop ‚Livereporting’ bei Simon Sticker waren das Radialsystem am Ufer der Spree in Berlin sowie das DANCE ON-Ensemble.DANCE ON wurde 2014 vom Kulturbüro Diehl-Ritter gegründet – mit der Absicht, erfahrene Tänzer:innen über 40 zu einem eigenständigen Ensemble zu formen und mit verschiedenen Choreograf:innen arbeiten zu lassen. Inzwischen wird es von dem charismatischen Choreografen und Tänzer Ty Boomershine geleitet, der viele Jahre Tänzer und Assistent der US-amerikanischen Postmodern-Ikone Lucinda Childs war. Die Idee, u.a. zentrale Frühwerke von Lucinda Childs neu einzustudieren und zu dem Abend ‚Works in Silence’ zusammenzufassen, kam von ihm. Drei dieser kurzen Stücke sind Teil der Aufführungsreihe ‚Making Dances – Dancing Replies’, die am 9. und 10. Juni 2021 im Radialsystem erstmalig aufgeführt wurden und dessen Proben glücklicherweise an den Tagen unseres Workshops im Juni 2021 stattfanden. Die Grundidee von ‚Making Dances – Dancing Replies’ ist denkbar einfach und doch komplex: Stücke aus dem Repertoire des modernen und postmodernen Tanzes werden zusammengebracht mit choreografischen Arbeiten von zeitgenössischen Choreograf:innen. Tim Etchels, Mathilde Monnier sowie Ginevra Panzetti und Enrico Ticconi ‚antworten’ auf ikonische Werke von Lucinda Childs, Martha Graham und Merce Cunningham – so das Konzept. Was Thomas Stache, einen der Workshopteilnehmer, zu der unsere Arbeit am Livestream leitenden Überlegung veranlasste: ‚Wenn die Choreografien der zeitgenössischen Choreograf:innen ‚Antworten’ sind – was ist dann die Frage?’

Was ist der Spannungsbogen, was sind die Fragen, die ich beantworten will in einem Stream? –

Simon Sticker –

Auch wenn wir zu Beginn des Workshops noch längst nicht wissen, wohin die Reise geht – die inhaltlichen Eckpunkte sind gesetzt: Wir wollen zwei ca. 30-minütige Livestreams aus dem Radialsystem senden. Dazu haben wir Probenbesuche bei DANCE ON angekündigt und drei Interviews verabredet: die Künstlerin Miki Orihara, die das Solo von Martha Graham tanzt, die Choeograf:innen Ginevra Panzetti und Enrico Ticconi, die an der Uraufführung ihrer Tanzproduktion MARMO arbeiten sowie Matthias Moor, den künstlerischen Leiter des Radialsystems, wollen wir befragen. Wie wir die geplanten Interviews mit Ausschnitten aus den Proben in den Livestreams verbinden, wie wir Übergänge schaffen und dem Ganzen einen roten Faden verleihen – davon haben wir zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung, Und auch nicht, wie oft wir die Konzepte, die in den ersten eineinhalb Tag entstehen, noch ändern müssen.

Doch bevor wir zur der Frage kommen, was wir inhaltlich überhaupt rüberbringen wollen, vermittelt Simon Sticker grundlegende Informationen zum Thema visual storytelling: Kompositionsregeln und Bildaufbau, Schnitt- und Perspektivwechsel, die Bedeutung des Lichts und die Konnotationen verschiedener Farben. Für die Fotograf:innen unter uns ist das alles nicht unbekannt, mir als Radiojournalistin eröffnen sich in Simons Bild- und Filmanalysen die Regeln visueller Wirkungen. 

 

Daneben gibt es einen Crash-Kurs für die technische Ausstattung: Wir lernen, dass ein Gimbal (eine bewegliche Halterung für Smartphones) nicht so leicht zu bedienen ist, wie es aussieht  und dass man für die Auswahl der Kameraperspektive statt eines teuren ‚Mixers’ auch ein iPad benutzen kann.

Vor allem aber fasziniert, dass wir das wichtigste Techniktool

für einen Livestream immer mit uns herumtragen.

Der zweite Workshop-Tag endet mit einem groben Plan für den nächsten: Wir werden uns für die Vorbereitung um 10:00 im Radialsystem treffen, um 12:00, 14:00 und 16:00 sind die Interviews verabredet, dazwischen wollen wir die Probe filmen. Im ersten Livestream um 12:00 soll die Probe des kurzen Solos von Martha Graham gestreamt werden, anschließend wird Lena Michaelis als Moderatorin mit der Tänzerin Miki Orihara live vor der Kamera sprechen. Den zweiten Livestream um 16:00 gestalten Thomas Stache und ich als Moderator:innen vor der Kamera, wir wollen ebenfalls ein Liveinterview führen, aber auch Proben- und Gesprächsausschnitte als Einspieler einblenden.

Das Direkte, Rohe ist die besondere Qualität des Livestreams.

– Simon Sticker –

 

Unbedarft wie wir als Gruppe sind, fühlen wir uns gut vorbereitet auf unseren großen Tag, aber Simon schwört uns noch auf das Direkte, ja Rohe als besondere Qualität des Livestream-Formats ein. Zu Recht, wie sich herausstellen wird.

Am Morgen des dritten Tages treffen wir uns am Ufer der Spree – und sind mit der Frage nach notwendigen Umplanungen sofort mitten in einer typischen Live-Vorbereitung – denn: Am späten Abend hat es Änderungen im Probenablauf bei DANCE ON gegeben und die beiden italienischen Choreograf:innen müssen das Interview von 16:00 auf 18:00 verschieben. Zu spät für einen Auftritt in unserem nachmittäglichen Livestream, es muss also irgendwie anders gehen.

Doch zunächst gilt alle Konzentration der Vorbereitung des ersten Livestreams um 12:00. In der Stunde davor passiert alles gleichzeitig: Das Studio muss auf Licht und Kameraperspektiven überprüft, die Künstlerin begrüßt, Aufgaben verteilt und Mikrophone an T-Shirts angebracht werden. Lena Michaelis spricht mit Miki Orihara ab, ob sie erst reden und dann tanzen möchte oder umgekehrt, Anja Beutler und entscheiden uns für die Verantwortung über die Bildauswahl und kriegen von Simon Sticker eine kurze Einführung in Sachen ‚das iPad als Mixer’. Ein Smartphone wird auf einem zentral stehenden Stativ angebracht, während Thomas Stache und Dieter Hartwig als iPhone-Kameraleute ihre Positionen im Raum klären und dabei den Gimbel ausprobieren.

Pünktlich beginnen wir nicht, aber das ist noch das kleinste Problem, das uns während des ersten Livestreams beschäftigt. Während Lena mit Miki in aller Seelenruhe und hochkonzentriert das Gespräch führt, spielen sich hinter den Kulissen komplexe Vorgänge ab: Drei Kameras fangen das Geschehen auf der Bühne ein, zwei davon in den Händen von Dieter und Thomas, die nicht selten unfreiwillig in den zwei anderen Aufnahmen erscheinen. Anja und ich entscheiden also nicht allein über die Frage, welche Bildeinstellung für den spezifischen Moment die interessanteste und geeignetste ist, sondern auch, welche Perspektive gerade überhaupt geht. Wir sind hochkonzentriert, lachen und schwitzen und sind froh, dass wir für diesen Livestream nur eine Handvoll und nicht Hundert Zuschauende haben.

Natürlich kann man einen Livestream auch alleine machen, wenn man das Equipment hat, aber eigentlich ist Livestream ein Teamsport.

– Simon Sticker –

Im Laufe dieses ersten Livestreams und des ganzen dichten, ruhelosen Tages wird deutlich: Die Livesituation fordert die Aufmerksamkeit eines jeden und jeder Beteiligte:n zu selben Zeit, ist ein Sog der Herausforderungen und eine Arbeit mit vielen Handgriffen, die alle auf eines zulaufen: den Moment, ‚auf Sendung zu sein’.

 

Nach dieser ersten Aufregung herrscht Erleichterung, alles bewältigt zu haben – und ohne Pause arbeiten wir weiter. Der Ablauf des zweiten Livestreams, der bereits zweieinhalb Stunden später stattfinden soll, muss schnellstens konzipiert.

Innerhalb einer dreiviertel Stunde entscheidet die Gruppe: Thomas und ich führen das Interview mit Matthias Moor, die Kolleg:innen werden das Gespräch filmen, genauso wie den Beginn der Probe der Produktion MARMO von Ginevra Panzetti und Enrico Ticconi. Aus beiden Videos werden hinterher geeignete Sequenzen ausgewählt und geschnitten, die als Einspieler für den Livestream dienen sollen. Wir Moderator:innen bereiten den Ablauf der halben Stunde inhaltlich vor, alle anderen technisch. Hochkonzentrierte Arbeit auf allen Seiten. Mit dem Ergebnis sind wir – als Livestream-Anfänger:innen – zufrieden.

Was bleibt?

 

Von der Setzung und Bewegung der Kameras über die mobilen Mikros am Körper und der Gespächssituation zu den Schnitt- und Bildwechselentscheidungen im Moment des Aufzeichnens – es ist eine Teamarbeit vieler Hände, Augen, Stimmen und Schritte durch den Raum in diesem Lampenlichtproduktionsvibriebrendenfieber des Livemoments.
Live Reporting hat den Charme der laufenden Aktion, der vielen gleichzeitigen Bewegungen im geteilten Moment, der bleibt. – Lena Michaelis –

Es bleibt:

 

Das erfüllende Erlebnis, zusammen an einem Projekt gearbeitet zu haben, das nur gemeinsam mit allen Beteiligten gelingen konnte. Der Gefühl, dass alle gleichermaßen konzentriert und auf ein gutes Ergebnis fokussiert waren und dass wir als Gruppe, die sich vorher nicht kannte, in kürzester Zeit zu einer eingeschworenen Gemeinschaft auf Zeit geworden sind. Die Erfahrung, dass man  an einem Livestream nur vorher und währenddessen, aber niemals hinterher arbeiten kann.

Allerdings: Das ganze Material, das während der Vorbereitungen generiert wurde, kann archiviert und für spätere Projekte verwandt werden.

Einfaches Beispiel: wir hatten gestern ein paar Interviews gemacht und vielleicht finden die andere Orte, wo man die verwenden kann. Vielleicht hat man ein Instagram- oder Youtubekanal, wo man noch mal Sequenzen daraus verwenden kann. Vielleicht will man aber auch andere Livestreams bewerben und schneidet daraus einen Trailer zusammen, vielleicht nutzt man in einem komplett anderen Kontext Informationen und Sequenzen daraus. Vielleicht von der Probe bietet sich das an, in einem ganz anderen Kontext noch mal darauf zurückzugehen und das  noch mal live zu kommentieren – was wir gestern nicht gemacht haben.

 

Jede:r von uns hat sehr viel von Simon Sticker gelernt und viele Erfahrungen aus diesem Workshop mitgenommen. Umso schöner war es, am Ende von Simon zu erfahren, was er von der Zusammenarbeit mitgenommen hat.

Ich kenn mich mit tanz null aus. Meine Welt ist die Welt des Dokumentarfilms und meine Themen sind andere, ich arbeite vor allem mit NGOs, ich arbeite viel in Afrika, viel mit ganz anderen Kontexten und Geschichten. Und dadurch war das für mich eine neue Welt, was erst mal für mich eine totale Bereicherung war, da so eintauchen zu können und sehen zu können und verschiedene Perspektiven kennenzulernen, wodrauf man überhaupt guckt.

 

Videos: Livestreams und Interviews – Simon Stickler

Weitere Fotografien: Dieter Hartwig

Text und Konzept: Dr. Elisabeth Nehring

Redaktion und Editing: Klaus Dilger