Eine Minute Tanz pro Tag
Ob mitten in einer Demonstration, mit Bauarbeitern, in einer Bäckerei oder in der eigenen Küche: Nadia Vadori-Gauthier filmt ihren Tanz. Täglich. Schon über 1.900 Mal, wo immer sie gerade ist. Meistens in Paris. Wie durchlebt ein solches Projekt die Zeiten von Covid-19 und Social Distancing?
Une minute de danse par jour : Jeden Tag eine Minute tanzen. Nadia Vadori-Gauthier praktiziert das schon seit dem 14. Januar 2015. Täglich landet ein Video im Internet, gepaart mit einem kurzen Text. Auslöser ihrer Pop-up-Auftritte in Stadt und Land war der Schock der Attentate im Januar 2015, als islamistische Fundamentalisten im 11. Arrondissement von Paris die Redaktion der satirischen Wochenzeitschrift Charlie Hebdo dezimierten. Die Veränderung des Klimas war sofort spürbar. Seitdem tanzt Vadori-Gauthier draußen oder drinnen, allein, mit Gefährten oder mit Passanten. Es ist eine sanfte, ständige Demonstration für weniger Härte, weniger Abgrenzung. Vor allem steht ihr Projekt unter Nietzsches bzw. Zarathustras Stern: „Verloren sei uns der Tag, wo nicht ein Mal getanzt wurde!“, heißt es in „Also sprach Zarathustra“. Aus dem Grauen des Terrors zog sie die Kraft, eine neue Phase ihres Lebens als Künstlerin zu beginnen.
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Ein Porträt unserer Zivilisation
Dennoch: Nichts liegt Vadori-Gauthier ferner, als die tanzende Reporterin zu spielen. Ihre Präsenz entspringt ihrem Lebensgefühl, ihr Körper spiegelt ihre Sensibilität und das Bedürfnis nach Poesie im Alltag. Und der ist so vielfältig dass sie inzwischen das Gefühl hat, einen corps-monde zu besitzen, einen Körper der die Welt verkörpert: „Ich tanze im Austausch mit der Umgebung, bin weniger ich selbst, gehöre weniger mir selbst, bin immer rezeptiv und in Resonanz, mit einem corps-monde dessen Inneres immer in Bezug zum Äußeren steht, beides ineinander laufend wie bei einem Möbius-Band.“ Da ist das Bedürfnis, das Miteinander trotz steigender Spannungen in der Gesellschaft nicht abreißen zu lassen.
Aus ihm ergibt sich weit mehr als ein filmisches Tagebuch. Da entsteht ein Porträt unserer Welt im Alltag, mit seinen historischen Momenten und gleichzeitig in all seiner Banalität: Mit Kindern während einer Schulspeisung (danse 1102), inmitten trocknender Wäsche zwischen Wohnhäusern in Venedig (danse 1187), in einem Pariser Bus (danse 1132) oder in einer Metrostation. Dort tauchen plötzlich jene Militärs auf, die Terroristen abschrecken sollen (danse 499).
Begegnung mit Nello, einem Obdachlosen Rumänen und dessen Hund (danse 1172), ein Solo im Hochwasser der Seine, mit hohen Gummistiefeln bewehrt (danse 1093). Hat Nadia Grippe, tanzt sie in ihrem Bett (danse 1111).