Durch die Feldenkrais-Methode erweitern Tänzer weltweit ihr Bewusstsein über Bewegung. Doch auch Menschen mit Querschnitt können durch sie ihre gelähmten Glieder wieder spüren
„Das kam für mich auch überraschend“, erklärt Helga Bost am Telefon. „Ich hatte so etwas vorher noch nie gesehen.“ Dabei ist es bis heute ganz klar zu erkennen: Auf ihrer Behandlungsliege ruht ein Mann mit inkomplettem Querschnitt, genannt Michael. Er kann sich von den Füßen her nicht spüren. Helga Bost wagt einen zarten Druck entlang seines siebten Halswirbels – und das Erstaunliche nimmt seinen Lauf: Michaels Beine drehen sich einwärts, ein „Tonus“ der Muskulatur stellt sich ein, das rechte Knie beugt sich plötzlich nach oben wie zum Gehen. Doch er fragt bloß: „War da unten was?“
Diese Szene ereignete sich vor fast dreißig Jahren. Und dank einer klugen Entscheidung ist sie auch heute noch für alle Welt sichtbar. Denn damals kaufte sich die frisch ausgebildete Feldenkrais-Pädagogin eine Kamera. Und filmte viele ihrer Sitzungen mit gelähmten Menschen.
So auch die Stunden mit Michael. „Ich wollte das verstehen“, sagt Helga Bost. „Die inneren Kraftlinien der Bewegung waren so stark, dass er sie noch in dieser Stunde wahrnehmen lernen konnte.“
Von Fragen zu Hypothesen
Wie kann das sein? Wie können ertaubte Körperzonen, die sich außerhalb der bewussten Wahrnehmung befinden, wieder reagieren und erspürt werden? Helga Bost las Artikel und Bücher, diskutierte zwanzig Jahre später auch mit Robert Schleip, einem der führenden Faszienforscher. Klar ist: Es geht um Zug und Druck. Es geht um das Fasziennetz, das unsere Muskeln, Organe und Flüssigkeiten umhüllt und das durch diesen manuellen Zug angesprochen wird. Schleip aber sah den Film von „Michael“ und sagte: Die Kraft der Faszien allein reicht nicht aus, um solche großen Bewegungen zu erklären.
Helga Bost suchte weiter. Und fragt inzwischen: Kann es sein, dass das myofasziale Netzwerk auf direktem Wege „spricht“ mit dem Erbe der Evolution? Und dadurch gespeicherte Bewegungsmuster wie Kriechen, Krabbeln oder Gehen erkannt und generiert werden? Unterhalb der Bewusstheitsschwelle?
Inspiration für Tänzer
Fragen nach dem Verhältnis zwischen Bewusstsein und Bewegung beschäftigen auch Tänzer und Choreographen. Viele berichten beispielsweise davon, dass sie merken, wie ihr Muskelgedächtnis aktiviert wird, wenn sie vertraute Bewegungen sehen. Und viele sind – oft durch eine Verletzung – mit somatischen Techniken wie der von Moshé Feldenkrais (1904-1984) in Berührung gekommen. Als Autodidakt arbeitete er nicht nur als Mechaniker, Kernphysiker und Judo-Lehrer, sondern entwickelte auch nach wiederkehrenden Knieschmerzen eine nach ihm benannte Methode.
Eine Säule ist dabei die „Funktionale Integration“: Die Therapeutin berührt den Körper des Klienten mit ihren Händen, um Bewusstheit in innerkörperliche Strukturen zu bringen. Der Klient soll sich dabei selbst beobachten, die langsam und ruhig ausgeführten Bewegungen so genau wie möglich innerlich verfolgen. Jede neue Situation wird mit der vorangegangen verglichen. So können sich alte Handlungsmuster auflösen und alternative Muster neu bahnen.
Ebenso ruhig und selbstreflexiv sind die in Gruppenunterricht angeleiteten Stunden der „Bewusstheit durch Bewegung“. Hier lernen Klienten durch mündliche Anweisungen in strukturierten Bewegungsexperimenten ihre Aufmerksamkeit zu schulen.
Das Selbstbild als Vergleich
Das innere „Selbstbild“ der eigenen Bewegungserfahrung muss sich verändern können, damit auch Bewegungsgewohnheiten sich verändern können. Viele Choreografen bestätigen diesen Leitsatz von Feldenkrais: Der ehemalige Direktor der Deutschen Staatsoper Berlin, Martin Puttke, ebenso wie der zeitgenössische Berliner Tänzer Jess Curtis aus Kalifornien. Als akrobatischer Tänzer-Choreograf trainierte Curtis an Seilen – teils zusammen mit Artisten mit eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten wie etwa Claire Cunningham, die den Gebrauch von Krücken künstlerisch verdichtete.
Flexibles Gehirn
Scott Clark nutzte die ökonomische, mühelose, fließende Bewegungspädagogik von Feldenkrais für die britische Siobhan Davies Company. Und auch der israelische Choreograf Ohad Naharin mit seiner Gruppe Batsheva wandelt auf Spuren des Autodidakten: Der wache und aufnahmebereite Muskeltonus seiner Methode „Gaga“ ist ein Renner auf Festival-Workshops. Sein „Lass es geschehen“ hat dabei sicher auch mit Grundsätzen zu tun, die er durch seine Mutter lernte – eine Feldenkrais-Pädagogin. Darum geht es: Evolutionäre und antrainierte Handlungsmuster erkennen, ordnen, neu kanalisieren. In einer Atmosphäre, die Neugier und Lernen fördert, ohne „richtig“ oder „falsch“.
Was Feldenkrais noch „flexibles Gehirn“ nannte, das bezeichnen Neurowissenschaftler wie Gerald Hüther heutzutage als „Neuroplastizität“: Eine Offenheit für Wandel in unserem Verhalten, die dadurch entsteht, dass neue synaptische Verbindungen begünstigt werden. Und begünstigt werden sie durch eine angstfreie, spielerische, mit Neugier aufgeladene Atmosphäre. Als pädagogischer Ansatz kommt Feldenkrais deshalb heutzutage in vielen staatlichen Ausbildungsgängen zum Zuge, ob an der Universität von Paris oder dem College im englischen Bath.
Prinzipien der Arbeit
Wenn Helga Bost einen Klienten mit ihren Händen berührt, dann denkt sie an die Knochen, Muskeln und myofasziale Meridiane. Sie nennt das dann: „Wir erforschen Bewegung.“ Es geht ihr immer um ein „wir“, denn es ist schließlich der Klient, der die Bewegung selbst spüren und lernen soll. Sie bietet dabei verschiedene Wahlmöglichkeiten an. Dann wird „sein System diejenige Bewegung auswählen, die es gut gebrauchen kann.“
Ein anderes wichtiges Prinzip der Feldenkrais-Methode ist das Weber-Fechnersche Gesetz. Es bedeutet, vereinfacht gesagt: Je weniger Kraft jemand für eine Bewegung aufwendet, desto feiner kann seine Wahrnehmung davon werden. Alles geschieht ohne Anstrengung, soll sich angenehm anfühlen. Erst dann werden die kleinsten Unterschiede spürbar.
Der Fall Werner
Diese kleinsten Unterschiede sind bis heute auch für Werner – einen 56-jährigen Bankangestellten – die Eintrittspforte in völlig neue Körperwelten. Durch einen Unfall erlitt er eine komplette Querschnittlähmung ab dem 4. Brustwirbel. Nach acht Tagen erwachte er aus dem Koma, einer der Ärzte sagte ihm: „Herr O., da kommt nichts mehr.“
Nach der ersten Reha entstand ein mit Gehirnwasser gefüllter Sack im linken Schulterbereich. Als Werner zu Helga Bost kam, spürte er nur seine rechte Körperhälfte bis zum 4. Brustwirbel und den rechten Arm.
Das Spüren anbahnen
Die Feldenkrais-Pädagogin begann ihre Behandlung wie immer – dort, wo sich jemand noch wahrnehmen kann. Bei Werner war das nur der Bereich des Kopfes bis zur Brust.
Im Film ist die anfängliche Behandlung zu sehen: Helga Bost testet drehend die Freiheit zwischen Elle und Speiche, versucht, den gebeugten Arm Richtung Zimmerdecke zu heben. Doch sein Schulterblatt fühlt sich an wie „festgeklebt“.
Das Denken anbahnen
Helga Bost nimmt ihrem Klienten die Arbeit des Festhaltens ab, indem sie den Rand seines Schulterblattes sachte in Richtung Liege drückt. Der Arm entspannt sich. Dadurch kann sie jetzt mit ihren Händen allmählich jene Bewegungen anbahnen, die Werner nach vielen Therapie-Stunden bis in die Füße spüren wird.
Werner kommt fortan zweimal wöchentlich. Zunächst gilt es, den eigenen Kopf zu spüren, von dort aus die Verbindung zum Becken. In der siebten Woche lernt er, seine Mitte für seinen Kopf und Körper zu finden: Er stellt sich diagonale, sich in der Mitte kreuzende Linien vor, die verschiedene Körperzonen miteinander verbinden, wie die diagonale Linie zwischen linker Schulter und rechter Hüfte. Langsam beginnt er, das durch das Denken Vorgestellte auch als tatsächlich körperlich vorhandenen Bereich zu spüren. Viel Konzentration ist dafür notwendig, und die einzelnen Übungen dürfen nie zu lange dauern.
Schmerzen gehören dazu
Innerhalb von sechs Jahren lernt Werner, sich unterhalb des Querschnitts wieder zu spüren. Und kann bis zum Becken kontrollierte Bewegungen ausführen. Er wird selbstständiger, braucht seine Hände nicht mehr zum Stabilisieren und kann sie zum Lenken eines Spezialrads nutzen. Er nimmt seinen Beruf in Teilzeit wieder auf, und das Gefühl von spürbarem „Innenraum“ in seinen Beinen gehört seit 2015 zu seinem Selbstbild.
Die Kehrseite des Spürens ist allerdings auch das Spüren von Schmerzen. Doch Werner „genießt“ seine Schmerzen inzwischen, weil sie „mir sagen, wo mein Körper ist.“ Sie erinnern ihn auch daran, sich häufiger im Rollstuhl hoch zu stützen, um einem Dekubitus vorzubeugen.
Frühe Lehrstunden
Mit Schmerzen ist auch Helga Bost seit jungen Jahren vertraut. Als begeisterte Sportlehrerin machten ihr die Hüften zu schaffen. Mit nur 23 Jahren wird sie mehrfach operiert, es folgen Reha-Maßnahmen, ihr Zustand verschlechtert sich zusehends. Mit nur 32 Jahren muss sie ihren Beruf als Lehrerin aufgeben.
Im Liegen hin – im Sitzen zurück
„Ich hatte meine Gebrauchsanweisung für das Gehen verloren“, erzählt Helga Bost. Dann sieht ihre Schwester eine Fernsehsendung über die Feldenkrais-Methode. Es ist das Jahr 1984, es gibt gerade einmal zehn ausgebildete Lehrer in Deutschland. Helga Bost belegt einen Workshop mit Gaby Yaron in Köln. „Ich fuhr liegend im Zug hin – und kam sitzend zurück“, erzählt sie. „Mein Mann hat nicht schlecht gestaunt.“
Bost entschließt sich zur Ausbildung, die sie 1989 nach vier Jahren abschließt. Über die Jahre hat sie seitdem eine besondere Herangehensweise entwickelt, die sie in Fortbildungen an mehr als 100 Kollegen weitergegeben hat. Sie hat an Forschungsprojekten der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft mitgearbeitet und war Vorstandmitglied im Feldenkrais-Verband Deutschland. Sie hat im Eigenverlag einen Dokumentarfilm über ihre Arbeit erstellt und das über 200 Seiten starke Buch Die Entdeckung des Unerwarteten, in dem sie – ganz Forscherin – bis ins kleinste Detail die schrittweisen Fortschritte von Klienten durch die Jahre beschreibt.
Die Zukunft ist schon da
Eine junge Kollegin, die ihre vierjährige Feldenkrais Ausbildung bereits abgeschlossen hat, hospitiert seit einiger Zeit bei Helga Bost. „Wir besprechen die Stunden, warum ich etwas wie mache“, erzählt die Pädagogin. Und freut sich: „Wenn ich in Urlaub gehe, kann sie inzwischen mit meinen Leuten weiterarbeiten.“ Ihre größte Freude ist für die 76-Jährige aber die Tatsache, dass ihre Arbeit Kreise ziehen wird: „Die junge Kollegin kann das in ihren Händen spüren, was ich spüre“, sagt sie, „und das ist toll zu wissen: Es ist lernbar.“