Tanz erschließt ständig neue Räume und strebt nach immer mehr Wirkung auch außerhalb der Theater. Eine Reise vom Pariser Panthéon in die virtuelle Realität.
Das Foucaultsche Pendel: Herzstück einer choreografischen Installation? Ja, das geht, und es zeigt, dass monumentale Architektur mehr ist als museales Dekor. Ein Monument, von Touristen seiner kulturellen Bedeutung wegen besucht, stellt Tänzer unvermittelt in einen Dialog mit nationalen oder universellen Mythen und somit in politische oder kulturelle Zusammenhänge. Wenn lebendige Körper in einer Kathedrale oder in einem architektonischen Leuchtturm ihre Präsenz und ihre Vergänglichkeit zelebrieren, dann atmen sie Geschichte, kollektives Gedächtnis, gesellschaftliche Zusammenhänge und: Zukunft.
Seit sechs Jahren dürfen Frankreichs Choreografen die Kulturschätze der Nation betanzen, vom Panthéon über die Abtei von Cluny, die Sainte-Chapelle, die Basilika von Saint-Denis und deren königlicher Gruft, vom Mont Saint-Michel bis zur Villa Savoye, die Le Corbusier 1931 erbaute, um dort mit Josephine Baker zu leben. Für den Architekten blieb das gemeinsame Nest ein Traum. Für die Tänzer dagegen geht der Traum in Erfüllung: als gern gesehene Gäste in Burgen, Schlössern oder in den revolutionäreren Architekturen des 20. Jahrhunderts. In jedem Jahr öffnen mehrere der einhundert durch das Centre des Monuments Nationaux betreute Bauwerke ihre Tore für choreografische Experimente. Der Titel der Veranstaltungsreihe lässt keinen Zweifel aufkommen: Monuments en Mouvement. In die Kult(ur)stätten soll Bewegung kommen. Der Erfolg ist durchschlagend, weil Architektur dem Tanz authentische, reale und einmalige Räume anbietet und weil derzeit keine andere Kunst so erfindungsreich neue Orte erobert wie der Tanz.
Im Panthéon: Yurie Tsugawa in La Mécanique de l‘histoire von Yoann Bourgeois (C) Géraldine Aresteanu
Man könnte meinen, der Mensch müsse schwächer und fragiler wirken, wenn er sich mit geschichtsträchtigen Prunkbauten auseinandersetzen muss. Und wahr ist, dass so manche Produktion, die im Ehrenhof des Papstpalasts beim Avignon-Festival Premiere hat, von der sie überragenden vierzig Meter hohen Fassade schlichtweg erdrückt wird. Erniedrigung auf höchstem Niveau. Der Grund: Die Architektur wird nicht in die Inszenierung einbezogen. Denn die Stücke sollen auch in normalen Theatern touren und wurden nicht für den Papstpalast konzipiert. Dann wird das Bauwerk zur Falle. Wie man es besser macht, zeigen immer wieder die Choreografen, denen Monuments en Mouvement ausreichend Zeit und Zugang zur den Baudenkmälern gewährt, um ein genuines Konzept zu entwickeln, in das der Bezug zum Raum und zur heutigen Bedeutung der Stätten Eingang findet. So entstehen fruchtbare Dialoge, so spannen sich Bögen zwischen damals und heute, zwischen Mythen und fragilen Körpern. Es braucht dafür keinen Diskurs, nur Präsenz und kinetische Energie. Wenn Choreografen dem erlebten Moment huldigen, erfahren wir am eigenen Körper, wie sich die Resonanz mit der Geschichte anfühlt. Sie ist dann nicht länger abstrakt oder museal, sondern quicklebendig. Die Vergangenheit vibriert im Raum und im Körper des Zuschauers, der oft genug auch selbst mobil wird.
Das Panthéon, erbaut als eine Kirche (als Eglise Sainte-Geneviève) und während der Revolution umfunktioniert zu einem Ruhmestempel für die Granden der Nation aus Kultur und Wissenschaft, erfährt durch seine Öffnung für den zeitgenössischen Tanz noch einmal eine zweite Demokratisierung. Die Ersten, die hier tanzen durften, waren im April 2015 zehn von der Straße weg engagierte B-Boys, choreografiert von dem Tunesier Radhouane El Meddeb. Sie bildeten eine schillernde, bunte, barocke, spritzige Fontäne aus Hip Hop und zeitgenössischem Tanz. Da durfte Jeder mit Jedem, zumindest was die Epochen und Stile betrifft, getanzt wurde von Merce Cunningham bis Folklore und Street Dance. Von der Decke grüßten die Fotos von authentischen Helden des Alltags. Wäre das Stück, es hieß Héros, Prélude, fünf Jahre später entstanden, jede Wette: Es wäre eine Galerie der Krankenpfleger und Opfer von Polizeigewalt geworden. Die Botschaft war aber auch damals schon eindeutig: Unsere Kulturschätze gehören allen. Der Choreograf saß nach der Uraufführung auf der Vortreppe des Panthéon und weinte vor Rührung.
Im Panthéon: Héros, Prélude von Radhouane El Meddeb (C) JM Gourreau
Skulpturen: Siege der Namenlosen
An dieser Stelle muss ein älterer, sehr dynamischer Herr gewürdigt werden: Philippe Bélaval, der Vorsitzende des Centre des Monuments Nationaux, der sein Konzept, choreografische Erneuerung und kulturelles Erbe miteinander zu verknüpfen, mit eben diesem mächtigen und absolut kohärenten, immens republikanischem Paukenschlag einleitete. Konsequent blieb das Panthéon denn auch das Herzstück von Monuments en Mouvement. 2016 tanzte dort: Carolyn Carlson mit einer Neuauflage ihres 2002 entstandenen Solos Des vices et des vertus (Le orazioni, Giotto solo), pathetisch und emphatisch, obwohl im Panthéon kein einziger Giotto hängt. Was sie mit Héros, Prélude, dieser choreografischen Skulptur von El Meddeb, verband: Sie tanzte vor einem Monument für die namenlosen Helden des Ersten Weltkriegs, während Carlson, die Grande-Dame des französischen Tanzes, ebenso gewiss in dieses Pantheon gehört.
Carolyn Carlson im Panthéon:
Vimeo.com
Widerspruch oder Harmonie: Das Panthéon ehrt einerseits die Helden aus Kunst, Krieg und Revolution (hier: die Generäle). Andererseits die Unbekannten, die Opfer. Carlson platzierte sich im linken Flügel, vor dem Monument des Bildhauers Henri Bouchard. Geht man geradeaus, bis zur Rückwand des Gebäudes, stößt man, anstelle des ursprünglich dort aufgestellten Altars, auf eine nicht minder bombastische, skulpturale Hymne an die Republik, das Vaterland, die Ehre und den Kampfeswillen: La Convention Nationale des Bildhauers François-Léon Sicard (1862-1934). Die nahm Nathalie Pernette als Inspiration für La Figure de l‘Erosion, den Schlusspunkt ihrer Trilogie, die im Rahmen von Monuments en Mouvement entstand. Die Choreografin, deren Kompanie in Besançon beheimatet ist, beendete sie im Panthéon. Es ging um das Verhältnis zwischen Leben, Tod, Stein und Unsichtbarem. Der erste Teil fand in der Basilika von Saint-Denis statt, der zweite mitten in Paris, zwischen den berühmten, schwarz-weiß gestreiften Säulen von Daniel Buren am Palais Royal. Und der Abschluss in Panthéon. In diesem Stück für vier Tänzer geht es um die Erosion von Steinen, Tänzern, Körpern und Idealen. Und um den Krieg, der vor einem Jahrhundert stattfand. „Aber der ist halt auch eine Form von Erosion“, sagt Pernette. Der expressionistische Stil, der Titel, der Ort: La Figure de l‘Erosion enthält durchaus eine Warnung: Lassen wie die Werte der Republik nicht erodieren.
Im Panthéon: La Figure de l‘érosion von Nathalie Pernette (C) Thomas Hahn
Foucault, die Treppe und das Trampolin
Nicht fehlen durfte Yoann Bourgeois. Frankreichs berühmter Zirkuschoreograf interessiert sich nicht nur leidenschaftlich für physikalische Naturgesetze, er versteht es, im Zuschauer ein Gefühl von Ewigkeit und Unendlichkeit zu erzeugen, das einen mit dem Universum in Verbindung setzen darf. Dazu hat er ein modulares System entwickelt, das in zeitgenössischem Esprit die Tradition der Zirkusnummern neu erfindet. Alles dreht sich um die Fliehkraft und den Moment der Schwerelosigkeit, der entsteht, wenn der Ball des Jongleurs den höchsten Punkt seiner Flugbahn erreicht und darauf wartet, dass die Schwerkraft ihn in ihr Reich zurückholt. Gern übernimmt Bourgeois selbst die Rolle des Balls, was den Effet spürbar verstärkt. Da lässt er sich – ob in einem Solo, Duo oder mit mehreren Akrobaten zugleich – von einer Treppe auf ein Trampolin fallen und schnellt, wie schwerelos, zurück auf eine der Treppenstufen. Zugegeben, diese ständigen „Seitensprünge“ bilden eine merkwürdige Art, eine Treppe hinauf oder hinab zu gehen. Aber sie fasziniert. Fugue/Trampoline heißt dieses Meisterwerk, eigens für das Panthéon neu erfunden und umgetauft in Énergie. Bourgeois ließ eine runde, rotierende Treppe bauen, sodass die auf und ab schwingenden Körper eine Art Verlängerung des Foucaultschen Pendels darstellten.
Im Panthéon : Energie von und mit Yoann Bourgeois als Teil von La Mécanique de l’histoire (C) Géraldine Aresteanu
Als Radhouane El Meddeb im April 2015 den Panthéon-Reigen eröffnete, befand sich das Pendulum noch in der Restaurierung. Erst später im Jahr wurde es dem Publikum wieder zugänglich gemacht. Spielerisch, respektvoll und auf seine Weise ein Naturwissenschaftler: So gruppierte Yoann Bourgeois fünf Installationen um Foucaults Meisterwerk, und in jeder von ihnen ließ sich beobachten, wie Naturkräfte auf den menschlichen Körper, aber auch auf unsere Seele einwirken. Im Pendelschlag zwischen Wissenschaft und Kunst war die Rotation von Foucaults goldener Kugel längst keine rein physikalische Demonstration mehr, sondern ein ästhetisches Ereignis. Gleich nebenan taumelte Yurie Tsugawa elegant als Stehauffigur im Zentrum des Tempels und in den Flügeln versuchten Paare, ihr Gleichgewicht zu finden oder zu halten: Hier auf einem schwankenden Plateau, dort in immer schnellerer Drehung, von der Zentrifugalkraft auf die Probe gestellt. Es sind zwei Essays über die Komplexität und Unerfülltheit von Beziehungen aus Bourgeois‘ Repertoire. La Mécanique de l‘histoire nannte er seinen Rundgang durch nationale Geschichte, Wissenschaft und Paargeschichten. Verfilmt wurde seine Inszenierung außerdem. Unter dem Titel Les Grands Fantômes ersannen Bourgeois und die Cineastin Louise Narboni eine Geschichte, die über die Installation hinaus geht.
Videos von Bourgeois im Panthéon :
Vimeo.com
Vimeo.com
Bourgeois Panthéon, Les Grands Fantômes, teaser des Films
auf Youtube ansehen: https://www.youtube.com/watch?v=PxJ-FUb78q8
Der Film in voller Länge:
auf Youtube ansehen: https://www.youtube.com/watch?v=JQQhiwrS3iU
Eintauchen in die Unterwelt : Yoann Bourgeois in Fugue VR (screenshot)
Fugue VR :
Vimeo.com
Virtuelle Räume
Mit dem Panthéon sind die Flugbahnen zwischen Trampolin und Treppenstufen noch nicht am Ende ihrer Reise. Begonnen hatte Fugue/Trampoline in der Natur, auf einem Hügel vor Grenoble, mit den Alpen im Hintergrund. Der freie Fall von den Treppenstufen wirkte dort wie ein Sturz ins Bodenlose. Genau dieses Gefühl liefert heute die jüngste Etappe des Epos von Bourgeois, die in der virtuellen Realität stattfindet. In Zusammenarbeit mit dem Filmemacher Michel Reilhac, der auf VR-Filme spezialisiert ist, entstand Fugue VR, réalité mixte, ein interaktives Werk, gefilmt im Musée Guimet von Lyon. Der 1879 vollendete und seit 2007 leerstehende Prachtbau soll ab 2021 als Dépendance des dortigen Maison de la Danse neu eröffnen. Im großen Saal installierte Bourgeois seine Treppe und sein Trampolin für den Film. Doch wenn die zehn Personen, das Publikum, ihre VR-Brillen aufsetzen, dann nehmen sie die Identität mysteriöser Gestalten in Mönchskutten an. Richtet man den Blick nach unten, fällt man, geführt von den Trampolinsprüngen, scheinbar in einen Raum oder eine Dimension unterhalb des Bodens. Das Ziel von Fugue VR, uraufgeführt bei der letzten Ausgabe der Biennale de la Danse in Lyon 2018: Dass man am eigenen Leib das Schwindelgefühl erfährt, das Bourgeois‘ Installationen sonst per Empathie vermitteln. Für den Film ließen die Tänzer sich mit Kameras bestückt auf das Trampolin fallen und hielten den Raum aus ihrer Perspektive fest. „Film und TV wurden erfunden, um mit Rückblenden und Schnitten die Zeit zu manipulieren. Die virtuelle Realität erlaubt, den Raum zu transzendieren und eine Erfahrung zu vermitteln, die in der physischen Realität unmöglich ist“, sagt Reilhac. Die Trennung zwischen Geschichte und Tanz von heute bzw. morgen: Sie ist Geschichte.