Wirkung und Auswirkung – Edan Gorlicki mit „Impact“
Autor|in: Antje Landmann
Veröffentlichung: 7. April 2020

Edan Gorlicki hat mit „Impact“ das Tanzstück zur Stunde choreografiert

Was passiert, wenn aus dem Nichts etwas Schreckliches über die Menschen hereinbricht? Eine Naturkatastrophe, ein Terroranschlag – oder ein tödliches Virus. Der Heidelberger Choreograf Edan Gorlicki hat mit „Impact“ das Tanzstück zur Stunde gemacht. Intensiv, beklemmend, geradezu visionär. Dabei ist seine Kompanie Interactions selbst mitten in die Corona-Krise geraten. Eine Reportage über eine außergewöhnliche Premiere

Dieses Röcheln und Keuchen. Dieses Hervorwürgen von Luft aus den Eingeweiden. Klingen so die Atemzüge eines Patienten, der am Lungenvirus Covid-19 leidet? Das Bild eines Tänzers, der auf allen vieren kauert, und sich halb erbricht, halb um frischen Lebensatem ringt, rührt an einem neuen Tabu: In Zeiten des Coronavirus darf man öffentlich nicht so krankhaft husten. Seine abgenutzte Luft hinausschicken, tröpfchenverschleudernd, ohne Sicherheitsabstand.

Dass sich die Sicht auf das Tanzstück so schnell verändern würde, konnte der Heidelberger Choreograf Edan Gorlicki unmöglich ahnen. Die Nahaufnahme des Tänzers Lorenzo Ponteprimo berührt mich sogar am Computer unangenehm, beim Streamen des Videos zu Hause. Dabei liegen zwischen uns nicht nur zwei Meter Abstand, sondern etliche Kilometer und Tage. Statt auf der Kirchenbank der Trinitatiskirche in Mannheim, die vom Eintanzhaus bespielt wird, lehne ich mich zu Hause im Sessel in ein kuscheliges Kissen zurück. Wohliges Licht verbreitet die Stehlampe. Das Telefon ist ausgeschaltet, und ein Wasserglas steht bereit, fast als würde ich gleich ein Interview per Skype führen. Aber über meinen Bildschirm läuft die Dokumentation eines Tanzstücks, dessen Premiere zerschlagen wurde und die nun doch an drei Abenden in drei Städten, im Stuttgarter Theater Rampe, im Heidelberger Karlstorbahnhof und im Mannheimer EinTanzHaus digital gefeiert worden ist.

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Das Trauma des Terroranschlags

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Wie unterschiedlich einzelne Menschen auf ein traumatisches Erlebnis physisch reagieren, erkundet Edan Gorlicki in „Impact“. In zwei weiteren Teilen seiner Trilogie folgt, wie die Gesellschaft das Trauma integriert und wie die nächste Generation damit umgeht. An Naturkatastrophen, aber auch an den Holocaust und den Terroranschlag in New York am 9. September 2001 dachte der 38-Jährige, schöpfend aus seiner Biografie als Sohn einer US-Amerikanerin und eines Israeli, aufgewachsen in beiden Kulturen. Der ehemalige Tänzer bei Ohad Naharin, Itzik Galili und Inbal Pinto lebt seit sechs Jahren in Heidelberg und profiliert sich als freier Choreograf mit gewagten sozialen Versuchsanordnungen, die oft interaktiv ausfallen. Er lässt Zuschauer Nachrichten auf einer Schreibmaschine tippen wie in „Boiling Cold“ (2016), einem Stück über soziale Distanz. Um das unsichtbare Geflecht aus Privilegien und Benachteiligung ging es in „Lucky Bastards“ (2019), in dem die Zuschauer abstimmten sollten, ob Vergewaltigung schlimmer sei als kein Zugang zu Wasser. Für „Lucky Bastards“ und „The Players“ erhielt Edan Gorlicki den Stuttgarter Tanz- und Theaterpreis. Dieses Mal sollten wir als stille Beobachter nur auf der Tribüne sitzen. Das erweist sich nun als Glück im Unglück.

Die Virus-Welle rollt heran

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Als die Coronavirus-Welle Mitte März heranrollte, waren die drei Tänzerinnen und zwei Tänzer intensiv am Proben. Von Leichen auf Krankenhausfluren in China wurde berichtet. Italien meldete eine wachsende Zahl an Infektionen mit der Lungenkrankheit. „Ganz plötzlich war es tabu, dem anderen nahe zu kommen. Aber wir Tänzer können nicht proben, ohne uns zu berühren“, sagt Edan Gorlicki. „Morgens haben wir uns miteinander noch wohlgefühlt. In der Mittagspause mussten wir schon die moralische Frage stellen, wo unsere persönliche Grenze ist.“ Solange die Regierung keine Warnung gab, machten sie weiter, aber isolierten sich als Gruppe, um sich gegenseitig zu schützen. Nur noch tanzen und nach Hause gehen, bis auch in Deutschland Schulen, Theater und Museen geschlossen wurden, eine Woche vor der Uraufführung. Die Taiwanesin TingAn Ying wollte schnell in ihr Land zurückreisen, bevor die Grenzen dicht machten. Entweder mussten sie jetzt alles zerschlagen oder das Ganze als Video drehen.

Sie können sich nur einen Durchlauf am 17. März leisten, um ein Publikum zu erreichen und den Geldgebern nachzuweisen, was sie erarbeitet haben. An die 24 Stunden fiebrigen Organisierens kann sich Edan Gorlicki kaum erinnern, fühlt sich selbst geschockt. „Die Kostüme waren nicht fertig, wir durchstöberten unsere Koffer und den Fundus. Innerhalb von acht Stunden musste Ingo Jooß das Lichtdesign programmieren. Ich habe drei Kameras organisiert und eine gesteuert.“

Keck zwinkert Amy Josh in die Kamera, während sie am Mikrofon steht und die Lippen zu Whitney Houstons „How Will I Know“ bewegt. Ein Paar in Aerobic-Klamotten umtänzelt ihren Playback-Auftritt in einer Mischung aus Jazz und Fernsehballett, so kitschig wie die bunten Lichtpunkte auf dem Boden. Ich lache amüsiert auf, als noch eins oben draufgesetzt wird und sich Tänzer wie Liebesgötter emporheben. Fettes 1980er- bis 90er-Jahre-Lebensgefühl stellt sich ein, die Spaßgesellschaft, die „Fiesta Forever“ mit Lionel Richie feiert. Noch so ein Song von der Hitliste, an der sich Edan Gorlicki satirisch abarbeitet. Fünf Tänzer, fünf Lieder, die sie charakterisieren: der Party-Hengst, die Melancholische, der Rebell … Bei Minute 21 zucke ich zusammen, der Video-Stream friert ein, ein Warte-Würmchen kreist. Geduld, das müssen wir ohnehin in diesen Tagen haben, abwarten. Ich trinke mein Wasserglas halb leer. Während alle bei „Freedom 90“ von George Michael abhotten, frage ich mich, ob das im Ernst ewig so weitergehen soll.

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Wie in einer Massenpanik

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Mit einem Augenblinzeln friert wieder alles ein, ich will schon zur Maus greifen, aber die Störung hat diesmal den Tanz direkt auf der Bühne erfasst. Ich rücke näher heran. Alles schwarz, alle erstarrt und stumm, unwirklich, aus der Zeit gefallen. Staub weht auf, grau wie die Fetzen des zusammenfallenden World Trade Centers in New York. Wie überhaupt die riesigen Schemen im Hintergrund sich wie Wolkenkratzer erheben, in ihrer Strenge aber auch die Stelen des Holocaust-Mahnmals zitieren. Der Sänger Alfonso Fernandez Sanchez lässt die Mikro-Stange zeitzerdehnend zu Boden kippen. Im blanken Horror verzerrte Gesichter, wie man sie von Pressebildern aus dem Vietnamkrieg kennt. Verdrehte Gliedmaßen ragen in die Kamera, hilfesuchende Arme. Durch sanfte Überblendungen der Großaufnahmen scheinen sich die Leiber im Film zu verdreifachen wie in einer Massenpanik. Wie irre wäre es, dabei jetzt die Tiefe des EinTanzHauses widerhallen zu lassen! Ich knipse alle Lichter um mich herum aus.

Anders als heimliche Mitschnitte aus dem Theater, anders als Probenvideos, anders als durchgestylte Tanzfilme gibt Edan Gorlicki hier ein unmittelbares Bühnenerlebnis und lenkt doch den Blick in Nahaufnahmen gezielt auf einzelne Tänzer, auf Details, die ihm wichtig sind – im Kino würde man sagen: im „Director’s Cut“. Minutenlang folgt er TingAn Ying, deren Arme wie gefesselt auf dem Rücken hängen und die sich mit einer anderen Tänzerin haltsuchend zu einem Doppelwesen verschweißt. Verstümmelt wirken alle. Aber ausgerechnet die Melancholische,  Charlotte Petersen, rappelt sich auf und hält sich aufrecht, während der „Freedom“-Sänger und Rebell einen Klotz aufklappt und sich darin lebendig begräbt.

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Kämpfen, flüchten oder erstarren

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Kämpfen, flüchten oder erstarren lautet für Menschen das Überlebensprogramm. Mit pochendem Herzschlag, mit Sirenengesang, mit rauen Gitarrenriffs führt der Sound von Harrison McClary sensibel durch die unmerklich ineinander übergleitenden Phasen des Schocks. Mit der roten Dämmerung kehrt das Leben zurück. Doch nach dem Abspann bleibe ich regungslos in meinem Sessel kleben, geplättet und überlegend, woran mich dieser Ritt durch die Katastrophe erinnert. Mir fallen nur Filme ein, „Babel“ von Alejandro González Iñárritu und „L.A. Crash“ von Paul Haggis.

Bis wieder ein Alarm ertönt: „Akkustand niedrig“ warnt mein Computer. Das ist der Rauswerfer, ich fahre den Rechner runter, gehe raus, tappe doch ins finstere Zimmer zurück, um den letzten Schluck Wasser auszutrinken. Wie seltsam. Als müsste ich dort noch etwas beenden, um die Erfahrung loszulassen. Während ich das schreibe, am nächsten Tag, werde ich von meiner Tochter gerufen, sie fühlt sich plötzlich fiebrig. Bestimmt nur überhitzt. Oder? Hinter jedem Hüsteln scheint etwas zu lauern. Sind wir noch am Feiern oder erwartet uns demnächst der Blackout?

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