Sie sind Schattentänzer. Denn als B-Besetzung lernen sie zwar die Hauptrolle, müssen sich aber zurückhalten. Falls sich jemand verletzt, werden sie jedoch ins Rampenlicht katapultiert und retten die Vorstellung.
Der Moment kann jederzeit in einem Tänzerleben kommen. Jamal Rashann Callender erlebte ihn, als er 19 Jahre alt war: Eine halbe Stunde bevor der Vorhang hochgehen sollte, wurde er gebeten, bei einem Pas de deux einzuspringen. Der Hauptdarsteller war von einem Auto angefahren worden. Callender war noch nicht einmal zweite Besetzung, für die ein Teil der Vorstellungen fest eingeplant ist, sondern nur der Ersatz für Notfälle. Mit der Partnerin hatte er noch nie getanzt, sie studierten schnell ein Video und sprangen ins kalte Wasser.
„Egal, welchen Rang man im Ensemble hat, einfach den Moment auskosten und alles geben“, sagt Callender, der an der Juillard School in New York studierte. Um fürs Einspringen gerüstet zu sein, müssen die Tänzer auf eigene Faust vorsorgen. „Ich schreibe mir viel in mein Notizbuch, nicht nur Schritte, auch Abstände im Raum und Übergänge.“ Videos helfen beim Lernen der Bewegungsabläufe, sind allerdings aus Zuschauersicht aufgenommen und damit spiegelverkehrt. In der Kompanie von Stephan Thoss am Mannheimer Nationaltheater brillierte Jamal Callender inzwischen häufig als Solist, doch für die Premiere „Verräterisches Herz“ musste der 31-Jährige wieder in die zweite Reihe zurücktreten – und das ist unbequem.
Nur den Tanz zu studieren, reicht nicht. Jamal Callender (ausgebreitete Arme) macht sich als B-Besetzung auch Notizen, um sich die Rolle einzuprägen. Foto: Hans-Jörg Michel
Zu wenig Platz, keine Requisiten?
Eine Tür, ein Plüschsessel und ein abgewetzter Teppich deuten im Probensaal des Tanzhauses Käfertal ein Wohnzimmer an. Rückwärts schlängelt sich Julia Headley hinein, später wird sie auf ihrem Kopf ein Glas mit Lippenstiftspuren balancieren und damit den Hauptdarsteller Joris Bergmans in den Wahnsinn treiben. Frei nach einer Geschichte des US-amerikanischen Schriftstellers Edgar Allan Poe hat er eine Frau umgebracht und die Spuren des Mords verwischt – so dachte er zumindest. Joris Bergmans buckelt mit eingezogenem Schildkrötenkopf, rudert mit den Ellbogen und bricht zusammen. Auf Knien hinkt er im Kreis, rammt den Schädel in den Boden, seine Partnerin reicht ihm die Hand zum Aufstehen.
Zwischen Tisch und Tür: Jamal Rashann Callender und Emma Kate Tilson ziehen sich zurück, um vorne Joris Bergmans und Julia Headley Raum zum Erarbeiten der Rollen zu geben. Foto: Yannika Hecht
Mach das Beste daraus!
Die Requisiten sind für die Hauptdarsteller reserviert. Kein Tisch, über den man sich rollen kann? Dann werden die Bewegungen in der Luft angedeutet. Nur ein Stuhl? Dann schnappt sich der zweite Tänzer den Hüpfball und fläzt sich darüber. Nein, das ist nur ein Scherz von Tyrel Larson, ehemaliger Tänzer der Kevin-O’Day-Kompanie, der das Thema in seinem Stück „Double Cast“ in der Choreographischen Werkstatt parodierte. Eine Maschinen-Stimme rät darin aus dem Off: „Mach das Beste daraus!“
Foto von Tyrel Larson / Fotograf*in
Videounterschrift / Quellenangabe / Urheber*in
Kopieren, lernen und trotzdem sein Ding machen
Zu einem „Pling“ des Pianos wirft sich der tanzende Mörder Joris Bergmans hoch. Jamal Callender im Hintergrund ist schon weiter und wellt sich bereits über den Boden. Der Blick des Choreographen pendelt zwischen beiden vor und zurück. „Boys, boys, super! Das mischen wir“, ruft Stephan Thoss. Bergmans passte musikalisch perfekt, und Callender interpretierte die Bewegung interessant. „Da haben sie sich unbewusst geholfen“, sagt Thoss. „Ich erwarte von der B-Besetzung, dass sie sich selbst einbringt, statt nur in den Rücken des anderen zu gucken.“ Für den Co-Hauptdarsteller kann er sogar andere Schritte, andere Musikalität und andere Hebungen festsetzen, zumal sich die Körper immer etwas unterscheiden. Je ähnlicher sich die Tänzer körperlich sind, desto besser. Darauf achtet Thoss bei den Co-Darstellern noch mehr als auf ihren Typ oder Stil.
Video: RHEINPFALZ/Yannika Hecht/Antje Landmann
Der Chef fördert und fordert
Anders ist es in Ballett-Kompanien, wo sich Tänzer in der strengen Hierarchie vom Corps de Ballet bis zur Primaballerina hocharbeiten müssen. „Du schaffst den Weg nur, wenn du 24 Stunden da bist, wenn du jede Rolle kennst“, weiß die choreographische Assistentin Zoulfia Choniiazowa, die ihre Karriere am Ballett Moskau begann. „Du musst dich reinschmeißen, wenn der Solistin etwas passiert, und sagen: Ich kann die Schritte.“
In zeitgenössischen Truppen dürfen dagegen fast alle Mitglieder Solos übernehmen – außer den Einsteigern, die überfordert wären. Der Tanzintendant Stephan Thoss überlegt bereits gut ein Jahr im Voraus, wen er wieder wann nach vorne holen wird. „Um unterschiedliche Tänzer zu fördern und zu fordern.“ Das bringt Abwechslung fürs Publikum, verhindert Frust im Ensemble und der B-Tänzer wächst an der Aufgabe, meint Thoss. Der geschmeidige Jamal Callender wird als Mörder das Abgründige hervorkehren müssen.
„Ich erwarte von der B-Besetzung, dass sie sich selbst einbringt, statt nur in den Rücken des anderen zu gucken.“
Elfenkönigin über Nacht
Julia Headley (hier in „Nichts“ von Marco Goecke) hat ihre Chance am Mannheimer Nationaltheater bekommen: Erstbesetzung für „Carmen“. Foto: NTM/Hans-Jörg Michel
Als Geschöpf der Waldes kreuchte und robbte Julia Headley durch den „Sommernachtstraum“. Doch weil sich die Kollegin am Knöchel verletzte, musste sie sich innerhalb von zwei Tagen zur Elfenkönigin Titania mausern, wild und verführerisch. Dabei hatte sie nicht alle Schritte der Königin beobachten können, weil sie in der Szene zugleich als Elfe beschäftigt war. „Das Schwierigste war, in den Charakter mit allen Nuancen zu schlüpfen“, sagt die 27-Jährige aus Barbados. „Ich machte mir Sorgen, ob ich genauso witzig sein kann. Ich musste erst loslassen und einsehen, dass ich eben anders bin.“ Sie ging in die Vorstellung ohne einen Bühnendurchlauf. Kann das gutgehen?
„Es entsteht eine besondere Energie“
Erst in den letzten Tagen vor einer Premiere fügt sich ein neues Stück mit Kostümen, Licht und Orchester auf der Bühne zusammen. Denn die Probenphase ist auf wenige Wochen begrenzt. Für einen ganzen Durchlauf im Theater bleibt für die Zweitbesetzung meist keine Zeit. Sie kann nicht lernen, ihre Kondition einzuteilen. Sie weiß nicht, wo sie bei einer Drehung von Scheinwerfern geblendet wird und wie sich die Kleider dabei anfühlen.
Angespannt sind in solchen Vorstellungen auch die Kollegen, die dem Neuling mit Hinweisen helfen. „Sie geben ihm Rückhalt, und alle sind hochkonzentriert“, sagt Choreograph Stephan Thoss. „Es entsteht eine Energie, die der Zuschauer spürt.“ Seltsamerweise läuft an solchen Abenden wenig schief. Stattdessen entsteht etwas Neues, Besonderes. „Ich habe dadurch erfahren, dass ich auch jemand völlig anderes darstellen kann. Ich kann alles, wenn ich mich gut hineinversetze“, erinnert sich Julia Headley an ihre Elfenkönigin. Einer war weniger überrascht: Tanzintendant Stephan Thoss. „Ich habe ihr vertraut. Sonst hätte ich sie ja nicht als B-Besetzung gewählt. Ich weiß um ihr Potenzial.“ Und Thoss hatte bereits einen Plan für sie im Hinterkopf: Er wusste, dass sie bald am Nationaltheater Mannheim die „Carmen“ tanzen würde. Und diesmal gleich in der ersten Reihe.
In der ersten Reihe: Julia Headley hat ihre Chance am Mannheimer Nationaltheater bekommen und brilliert in der Hauptrolle von „Carmen“ mit Jamal Callender. Foto: NTM/Hans-Jörg Michel