Kampflos gibt der Körper nicht auf: Sylvana Seddigs Videotanz in Zeiten der Tröpfcheninfektion.
Sylvana Seddig tanzt. Alleine, in einer schmucklosen Wohnung, Dielenboden, Sofa, weiße Wand. Drei kurze Videos hat die Tänzerin und Schauspielerin auf Instagram veröffentlicht, drei Videos, die den im Zuge von Ausgangssperre und Corona-Quarantäne aus dem Blickfeld geschobenen Körper zurück in die Öffentlichkeit entlassen, zumindest virtuell. Die Künstlerin verfolgt mit diesen Videos „verschiedene Strategien zum Quarantäne-Koller“, wie sie sich ausdrückt. Der erste Film, hochgeladen am 20. März 2020 zeigt Lockerungsübungen, Hüpfen, Loslassen: „Shake it off“ heißt er. Der zweite (23. März) ist fließend, sanft, organisch: „Berührungsersatz“ genannt. Der dritte (25. März) wütend, sportiv, geprägt von aggressiven Tritten in Richtung Kamera, heißt „Decorate the space around you – with movement“. Insbesondere der letzte Film ist spannend, weil hier nicht nur gewütet wird, sondern auch Kontakt eingefordert.
In Zeiten der erzwungenen Spielzeitpause versuchen viele Theater, ihre Sichtbarkeit übers Internet zu wahren. Die sozialen Medien sind voll mit Bewegungsstudien, Tutorials, Videogrüßen aus dem Homeoffice. Seddigs Tanzvideos gehören nicht in diesen Marketingkontext. Sie sind Zeugnis eines individuellen Körpers, der mit einem nicht-choreografierten Tanz in die Öffentlichkeit drängt. Auch wenn die Öffentlichkeit in diesem Fall nur die am Bildschirm ist. „Meine Strategie ist wohl einfach die, dass ich mich kreativ und künstlerisch ausdrücken will“, beschreibt die Mittdreißigerin ihre Motivation. „Dieser Wille existiert unabhängig von Spielplänen, Proben und Theatern. Normalerweise wird er natürlich dort befriedigt. Jetzt wurde das alles genommen und ich habe eher wie ein Kind einfach das gemacht, worauf ich Lust hatte. Ich hab die Kamera angestellt und bin kamikaze-mäßig drauflos.“
Seddig ist Bühnenkünstlerin. Kein ganz großer Star, aber gut im Geschäft, Münchner Kammerspiele, Thalia Theater Hamburg, Schauspiel Köln. Seit kurzem ist sie fest im Ensemble der Berliner Volksbühne, eine Grenzgängerin zwischen den Genres, hier Sprechtheater, dort Tanz, hier Performance, dort Körperkunst. Immerhin, als festes Ensemblemitglied ist sie in der privilegierten Position, dass sie trotz Quarantäne weiter ihr Gehalt bezieht. Trotzdem: Seddig darf wütend werden, wenn diese künstlerische Laufbahn plötzlich ausgebremst wird von einem Virus. Und diese Wut erahnt man in den Tritten des dritten Videos. Aber auch die Trauer über den Verlust eines künstlerischen Alltags. „Ich hatte große Angst, dass ich das Spielen und Proben sehr vermissen werde. Aber: Was für Bedürfnisse befriedigen Vorstellungen und Proben? Kann ich sie anders stillen? Oder kann ich diese Bedürfnisse auch einfach mal so stehen lassen?“
Sonntag. Der Stadtpark ist voller Ausflügler. Etwas ist ungewohnt: Alle sind vereinzelt, es gibt keinen Kontakt zwischen den Menschen. Der Körper des Gegenübers ist eine Bedrohung, ein drohender Virenherd. Wenn man den Park betritt, sieht man Vereinzelung, eine Welt, in der der andere Körper neutralisiert wird, verschwindet – Social Distancing. Gia Kourlas beschreibt es in der New York Times so einleuchtend wie erschreckend als Choreografie.
„Die Pandemie existiert doch nur, weil unser Körper sich mit seiner Sterblichkeit zu Wort meldet“, sagt Seddig: „Unser Körper ist immer noch im Hier und Jetzt verhaftet, und wenn er nicht integrierter Bestandteil unseres Seins ist – was passiert dann?“ Der Körper meldet sich, und die Choreografie der Körpervermeidung im Stadtpark ist im Grunde nichts als das Ignorieren dieser Wortmeldung. Seddig dagegen prügelt mit ihren Videoperformances die Körperlichkeit zurück in die Wahrnehmung. „Vor der Pandemie war mir nicht bewusst, wie sehr mein Beruf auf menschlicher Nähe gründet“, sagt sie. „Ich habe gemeint, dass die inhaltliche Arbeit, die Auseinandersetzung mit Gedanken, Texten eine ebenso wichtige Rolle spielt. Aber ohne zwischenmenschliche, körperliche Nähe existiert das Theater im traditionellen Sinne nicht. Und hier spreche ich nicht nur von uns Spielern untereinander, sondern auch von allen Mitarbeitern und natürlich Zuschauern.“ Indem die Performerin im virtuellen Raum einen Dialog sucht, sucht sie Nähe zum Publikum.
Solches Wahrnehmungsheischen beherrscht die Darstellende Kunst ganz gut. Und hat hierfür auch eigene Mittel entwickelt: Der Schmerz und das Blut in Florentina Holzingers „TANZ“ etwa, Pisse und Demütigung in Antje Pfundtners „Sitzen ist eine gute Idee“. Das Spiel mit Körperflüssigkeiten ist in Zeiten der Tröpfcheninfektion nicht unproblematisch. Allerdings auch nicht rasend originell: Körperflüssigkeiten hat schon Freud auf ihre Funktion des Triebhaften, Unsichtbaren, Unfassbaren verwiesen.
Seddig wählt einen anderen Weg; radikale Vereinzelung und ihr Aufbegehren gegen diese Vereinzelung. Sie tritt, sie trotzt, sie wütet. Sie sucht einen Partner, und wo dieser Partner fehlt, wird am Ende die Zimmerwand zum Partner. „Indem ich das Fehlen einer Sparringspartner*in thematisiere und einen spielerischen Umgang finde, verliert die Tatsache, dass niemand anders da ist, irgendwie ihren Schrecken“, meint sie.