Die Berliner Autorin kehrt auf die Probebühne zurück. Judith Kuckart und ihr Tanztheater Skoronel sind: reloaded
Schreibende Tänzerinnen und Tänzer? Worte finden? Worten auf die Sprünge helfen? Judith Kuckart, erst Tänzerin, dann Choreografin und Berliner Compagniechefin (ihr Tanztheater Skoronel existierte von 1984 bis 1998), ist seit mittlerweile mehr als zwanzig Jahren Schriftstellerin. Für sie ist das Schreiben Alltag. Für die neun ehemaligen Skoronel-Tänzerinnen und Tänzer (zwischen 50 und 70 Jahre alt) ist es Neuland. Schreiben für ein Tanzstück? Keine einfache Sache, sagt Kuckart: „Ich weiß, wie sehr man sich genieren kann – aus eigener Erfahrung – einen Satz, den mal selbst geschrieben hat, laut vorzulesen. Da ist die Schamgrenze hoch. Also habe ich mir einen besonderen Arbeitsweg überlegt: Ich lege dem Ensemble Bildmaterial vor. In London habe ich Zeichnungen einer italienischen Künstlerin in der White Chapel Galerie fotografiert, das Thema: Making Love Revolutionary. Sie dienten als Vorlage. Eigene Geschichten werden also aufgrund des fremden Bildmaterials entstehen. Eigene Geschichten werden in der Auseinandersetzung mit den Geschichten anderer sichtbar. Jeder erzählt viel von sich selbst, auch dann, wenn er von anderen erzählt oder etwas beschreibt. Wer beschreiben kann, kann auch erzählen, oder? Außerdem hatte ich schon vor der Coronazeit alle Ensemblemitglieder gebeten, Tagebuch zu führen. Was für ein glücklicher Zufall. Jetzt gibt es viel überraschendes Material über diesen besonderen Alltag. Wenn wir im Juni 2021 Premiere haben, wird deutlich werden, dass die persönlichen Erinnerungen sich zum kollektiven Erinnern ausweiten können. Dieses Tagebuchmaterial wird in der Montage etwas Drittes freigeben und mehr sein, als ein ‚Ach, dann bin ich ja einkaufen gegangenen mit Maske. Das war aber schlimm.’“
In ihrem neuen Stück will Kuckart gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern vom Leben mit und nach dem Tanz erzählen, über prekäre und widerständige Biografien im Spiegel eines autobiografischen, poetischen Erzählens. Den Einzelschicksalen liegt ein kleines, gemeinsames Vielfaches zugrunde, glaubt Kuckart. Es sind bestimmte Überlebensstrategien. „Es geht um etwas Existenzielles, Exemplarisches. Wie schafft man es, dass das Prekäre seine eigene Art von Glanz behält? Wie schafft man es, dass man gerne lebt bis zum Schluss?“, fragt sie. An diesem Abend im Juni 2021 – Titel: „Die Erde ist gewaltig, doch sicher ist sie nicht“! – soll davon erzählt werden, „dass wir etwas zu vererben haben, weil wir getanzt haben. Nein, kein Geld, sondern ein Überlebenspaket, geschnürt aus Eigenschaften und Erfahrungen.“ Natürlich wird das Thema „Tanz und Alter“ eine Rolle spielen, aber der Satz: „Oh Gott, das funktioniert ja noch. Das ist ja toll und die ist ja schon so alt.“, interessiert Kuckart nicht. „Wir sind nicht beim Zirkus, wo alte Gäule in die Arena gelassen werden.“ Ihr geht es um die Persönlichkeit der Tänzerinnen und Tänzer. „Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass ich seit 1990 eindeutig als Erzählerin und Romanautorin unterwegs bin. Ich versuche, das Ensemble mit auf die Seite des Erzählens zu ziehen. Ja, das ist Neuland für alle. Doch haben Texte in all unseren Stücken immer schon eine große Rolle gespielt. Warum sollen wir nicht versuchen, gemeinsam diese selbst zu schreiben?“ Sprachliches gab es in allen 17 Produktionen des Tanztheater Skoronel. Vielleicht war es deshalb für alle neun so leicht, diesem neuen Projekt, „Tanztheater Skoronel reloaded“, zuzustimmen. „Es ist ein Investment an Zeit und Freundschaft.“ findet Kuckart.
Warum es für sie von Anfang an so wichtig, Sprache und Körpersprache miteinander und aneinander arbeiten zu lassen? „Ich glaube, ich war immer eine Erzählerin. Ich habe es nur nicht gemerkt. Ich habe so früh mit dem Tanzen angefangen, da konnte ich noch nicht mal schreiben. So kam ich auch nicht darauf, zu schreiben. Tanzen war für mich als Mädchen etwas Ähnliches wie für die Jungen das Fußballspielen. Mit fünf fing ich an, ins Ballett zu gehen. Meine beste Freundin hat mich mit dorthin genommen, in das Hinterzimmer einer schmuddeligen Gastwirtschaft, wo es keine Stangen gab, sondern nur die obere Leiste einer Holzverkleidung, an der wir uns festhielten. Ballett war für mich damals die wichtigste Erfahrung von Anderssein, von Überleben, von lächelnder Stärke und Selbstbewusstsein. Ich glaube, dass ich ganz viel von der äußeren Haltung, die ich damals gelernt habe, als innere Haltung noch heute habe. Alles, alles kommt von früher, als man Kind war.“ Das Tanzen und Schreiben zeitlich immer schön zu trennen, hat auf Dauer nicht geklappt. „Dann gab es ’96, ab ’96 mehr als eine große Unzufriedenheit. Das Zweigleisige, wo ich immer dachte, das gibt mir zwei Standbeine im Leben, zerriss mich. So als würden die Gleise auseinanderlaufen und ich im Spagat dazwischen hängen.“ 1998 löste sie sich vom Tanz und setzte sich an den Schreibtisch. Wo treffen sich in ihrer Arbeit heute die Sprache und der Tanz? „Ich glaube, es geht schon los mit dem täglichen Aufstehen. Ich weiß nicht, ob ich diese Strukturiertheit und Disziplin hätte, wenn ich nicht getanzt hätte. Das heißt nicht, dass ich mit gespitzten Füßen am Schreibtisch sitze, oder mit schöner Nackenhaltung. Aber innerlich habe ich mit dem Hinterland Tanz im Rücken die Möglichkeit, mich immer zu ermahnen. Mach weiter, du schaffst das. Mach was draus!“
Eine Liedzeile von Schubert hat sie als Titel für ihr Stück ausgesucht. Die Premiere wird im Sommer 2021 wohl am Theater Dortmund stattfinden: „Die Erde ist gewaltig schön, doch sicher ist sie nicht!“ Wer weiß das besser als Tänzerinnen und Tänzer?