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IM BIERFASS von Falk Schreiber

 

Im Bierfass


„Kein Ding, Digger, das Ding hat Swing“

Jenny Beyer choreografiert die Band Deichkind.


Von Falk Schreiber


Subtil geht anders. Ein wuchtiger Beat wummert, ein gnadenlos tiefer Bass prügelt einem in den Magen und 12000 Zuschauer in der Hamburger Barclaycard Arena grölen „1000 Jahre Bier“: „Drei Liter Malz / Rein in den Hals / Genauso, Mann / Jetzt hast du’s geschnallt.“ Die Band Deichkind segelt dazu in einem riesigen Bierfass durch die tobende Menge. Prost.


Aber der Deichkind-Auftritt in der fast ausverkauften Multifunktionshalle ist kein reines Sauf-Party-Event. Sondern ebenso eine konsequent durch choreografierte Inszenierung. Sie lässt sich zwar bei Gelegenheit auch auf den großen Bierdusche-Exzess einlässt, dazu aber immer häufiger ins Abstrakte traut, bei Songs wie „Dinge“ ( HYPERLINK "https://www.youtube.com/watch?v=XLhQvgdXbgo"https://www.youtube.com/watch?v=XLhQvgdXbgo), deren Sprachwitz weit entfernt von „Malz in den Hals“ liegt: „Kein Ding, Digger, das Ding hat Swing“ wird gerappt, und irgendwo zwischen „1000 Jahre Bier“ und „Dinge“ liegt der Reiz von Deichkind versteckt. Nicht nur textlich, auch optisch. Verantwortlich für die Bühnenshow: unter anderem Regisseur Henning Besser und Choreografin Jenny Beyer, sonst gefeierter Star der Hamburger freien Szene, künstlerisch im Hamburger Produktionshaus Kampnagel beheimatet. Seit 2012 choreografiert Beyer die Deichkind-Shows.


Die 39-Jährige ist kein ausgewiesenes Kind der Popkultur. Aufgewachsen im Hamburger Norden, nahm sie als Kind Ballettunterricht und kam mit 14 an die renommierte Ballettschule John Neumeiers, einem Sehnsuchtsort der Neoklassik. Mit 14 war sie damals schon ziemlich alt. „Eigentlich wusste ich tief in mir drin, dass ich nicht gut genug bin“, erzählt Beyer. „Das ist diese Drill-Schule, wo man immer am Limit des Versagen ists, das geht wahrscheinlich 90 Prozent der Schüler*innen so.“ Nach vier Jahren war klar, dass sie nicht in die Theaterklasse übernommen werden würde. Eine Lehrerin vermittelte sie nach Rotterdam zu Codarts – Hogeschool voor de Kunsten, wo sich eine neue Tanzwelt eröffnete: „Das war der komplette Eye-Opener. Tanz war bis dahin für mich Ballett, ich habe mir nur Neumeier-Stücke angeschaut, das war schön, und alles andere war … naja“, lacht sie. In Rotterdam kam sie erstmals mit modernem Tanz in Berührung. Auch hier habe es Drill gegeben, auch hier seien bestimmte Rollenmuster bedient worden, aber die Atmosphäre sei grundsätzlich offener gewesen. Nach ihrem Abschluss kam sie über Umwege zurück nach Hamburg, für eine Residenz bei K3 – Tanzplan Hamburg auf dem Kampnagel-Gelände. Auf Kampnagel entstanden seither Stücke wie „Fluss“, „Glas“ oder „Début“, sensible, stille, fragmentarische Arbeiten, die durch ihren Mut zum kleinformatigen Detail bestechen.

Über Kampnagel kam auch der Kontakt zu Deichkind zustande. 2012 waren Plattenverkäufe zur vernachlässigbaren Größe im Musikbusiness geschrumpft. Stattdessen wurden Konzerte und die daraus generierten Einnahmen immer wichtiger – und Deichkinds Auftritte hatten schon damals den Ruf, mehr aufwendige Feiern der Entgrenzung zu sein als reine Musikpräsentationen. Kreativkopf Henning Besser entschied, dass die Liveperformances der Gruppe professionalisiert werden müssten und fragte den Kampnagel-Dramaturgen András Siebold, ob er ihm jemanden für die Choreografie empfehlen könne. Was schon einen Hinweis darauf gibt, dass hier nicht in erster Linie nach kommerziellen Gesichtspunkten vorgegangen wurde: Besser fragte eben keine Agentur, die ihm einen auf Pop spezialisierten Dienstleister vermitteln würde. Er fragte den Dramaturgen eines avantgardistisch orientierten Produktionshauses. Und der empfahl ihm Jenny Beyer.


Nachdem die Choreografin zugesagt hatte, stand die Aufgabe: Wie schafft man die Verbindung zwischen einer im Hip-Hop- und Pop-Bereich extrem erfolgreichen Musikgruppe mit zeitgenössischem Tanz? „Ich habe dann gefragt: Okay, haben die sich überhaupt schon einmal auf eine andere Art bewegt?“, beschreibt Beyer ihre Skepsis gegenüber den eingeübten Performanceritualen der Hip-Hop-Szene. „Also haben wir ein Training eingeführt. Wir haben angefangen, morgens Yoga zu machen, ein bisschen Impro, einfach ausprobiert. Es ging darum, ein Körperbewusstsein zu schulen, eine andere Art von Miteinander auf der Bühne auszuprobieren.“ Tänzerisch war das, was zu Beginn entstand, noch Konvention: Anleihen an Boygroup-Choreografien, Eins-zu-eins-Umsetzungen der Deichkind-Texte. Aber je länger die Zusammenarbeit andauerte, umso stärker gingen Beyers Choreografien in die Abstraktion.
























Wobei diese Tendenz zum Abstrakten nicht ausschließlich von der Choreografin kommt, sondern auch von der Gruppe, die auf der jüngsten Platte „Wer Sagt Denn Das?“ immer tiefer in verklausulierte Wortspielereien abtauchte. „Wir haben weniger auf den Text geachtet, weniger auf Eins-zu-eins-Bebilderung“, beschreibt Beyer die Arbeitsweise. „Sondern auf choreografische Prinzipien, Improvisationsprinzipien und schließlich auf prägnante Momente. Am Ende ging es um Bilder.“ Entsteht da ein Widerspruch zwischen künstlerischem Anspruch und den Massen, die einer Mainstream-Band zujubeln? „Deichkind sind sich natürlich bewusst, dass das Pop ist, für ein riesiges Publikum. Aber die machen sich da eigentlich nicht so große Sorgen, dass das vielleicht nicht verstanden wird.“ Na ja: Wenn man während des Auftritts mit offenen Ohren durch die Hamburger Mehrzweckhalle spaziert, hört man Aussagen wie „Die Musik ist ja geil, aber den Kunstkram könnten sie auch weglassen.“ Andererseits: Das Publikum mag den Kunstkram missachten, dennoch bekommt es ihn mit. Zeitgenössische Kunst für 12000 Zuschauer*innen, das muss man erst mal schaffen.


Für Beyer bedeutet das Deichkind-Engagement ein regelmäßiges Einkommen, das zudem von Jahr zu Jahr mehr Leute aus der notorisch prekären freien Tanzszene ernährt: Unter anderem Philipp van der Heijden, Jonas Woltemate und Viktor Braun sind als Performer bei Deichkind engagiert, was zur Folge hat, dass das Zahlenverhältnis zwischen professionellen Tänzern und Rappern auf der Bühne ausgeglichen ist. „Ich verdiene mich mit Deichkind nicht dumm und dämlich“, umreißt Beyer den ökonomischen Aspekt der Arbeit, „aber es ist ein anderer Tagessatz als sonst, und das über einen ziemlich langen Zeitraum. Das läppert sich.“ Sechs Wochen Proben in Hamburg, eine Woche Endproben im Ruhrgebiet, dann noch Tourtermine – rund zwei Monate im Jahr ist die Choreografin mittlerweile mit Deichkind unterwegs.

Ist das vielleicht ein gangbares Finanzierungsmodell für die Szene überhaupt? Auch andere Bands dürften Bedarf an choreografischer Professionalität haben, oder? Beyer ist skeptisch. Zu gut funktioniert ihre Zusammenarbeit mit Deichkind, als dass sich das verallgemeinern ließe: „Ich bin eher skeptisch, was kommerzielle Jobs betrifft. Ich kriege manchmal Anfragen für Werbesachen, das mache ich nicht. Mit Deichkind, das macht Spaß, hat einen künstlerischen Anspruch, ist politisch korrekt, und ich kann damit Geld verdienen.“ Auch die Show einer Helene Fischer ist hochprofessionell choreografiert, allerdings nicht von Beyer. Und das hat seine Gründe.


2015 waren Deichkind beim schon damals indiskutablen Branchentreffen Echo eingeladen. Der Auftritt bestand darin, dass Statisten mit „Refugees Welcome“-Anzügen auf der Bühne performten (und rechtskonservative Stars wie Andreas Gabalier damit zur Weißglut brachten), während Rapper Porky aka Sebastian Dürre an der Rampe stand und von Beyer per Knopf im Ohr Anweisungen erhielt, die im Hintergrund gedoppelt wurden. Das Ergebnis war eine so absurde wie politische Performance, die die Glätte der Echo-Inszenierung konsequent ins Leere laufen ließ. „Da hat man gemerkt: Deichkind haben mit anderen Pop-Choreografien überhaupt nichts zu tun“, sagt Beyer. Was hier entsteht, ist: Kunst. Performance. Tanz. Mit gelegentlichen Saufliedern.


ZUM AUTOR:

Falk Schreiber

Freier Kulturjournalist



Falk Schreiber, freier Kulturjournalist, geboren 1972 in Ulm, Studium in Tübingen und Gießen, lebt in Hamburg, schreibt regelmäßig über Darstellende und Bildende Kunst für Hamburger Abendblatt, Theater heute, Nachtkritik, taz und andere, lehrt, moderiert und berät diverse Fachjurys.


 

Deichkind©Auge Altona

 
 

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